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Erfahrungsbericht Ines Schaikowski

Erfahrungsbericht zu meinem Aufenthalt in Japan im Sommer 2010.

Jemand hat mal zu mir gesagt: ‚Ines, wenn du in Japan bist, wirst du sehen, dass es ganz und
gar nicht so ist, wie du es dir immer vorstellst….

Japan ist laut, bunt, plastisch, kitschig, albern, weit entfernt also von deinen romantischen Vorstellungen. Der Geist des alten Japan ist verweht; die Schönheit der Stille, nahezu vergessen; das konzentrierte Streben nach Harmonie, verliert an Belang. Das Einfache, Schlichte, Matte, Schattige, Bittere, Verschwiegene, nur zaghaft Angedeutete… wenn es das ist, was du suchst, dann wirst du Mühe haben, es heute noch zu finden.‘

Mit ungefähr 300 Passagieren stieg ich in Tokyo Narita aus dem Flieger, stellte mich in einer Schlange an, füllte einen kleinen Zettel aus, suchte mein Gepäck zusammen und ging in die Ankunftshalle. Dort war ich nahezu allein. Keine Schlangen am Kiosk, auch nicht an den Ticketschaltern für die Züge stadteinwärts, auch die kleinen Stände die Handys vermieteten, leer, einige geschlossen.

Ich stieg in meinen Zug, das Abteil hatte ich für mich allein, hier drinnen war es kühl. Nach wenigen Minuten verließen wir das Flughafengelände. Ich starrte aus dem Fenster auf bewaldete steile Hügel, auf kleine grüne Reisfelder an winzigen zweistöckigen Häuschen, auf
zierliche Gestalten mit riesigen hellen Sonnenhüten, auf kantige Miniaturautos die wie Spielzeug über die schmalen Straßen rollten – ich blickte auf mein Japan.

In der Ferne erschienen nach und nach erste Wohngebiete, Hochhäuser und Autobahnen, die Bahnhöfe wurden größer, bunter und lauter. Ich aber war in einem Vakuum hier drinnen, dachte ich. Mein Abteil füllte sich langsam, doch es blieb seltsam leise. Die Menschen schliefen oder ließen sich von ihren Handys hypnotisieren. Manchmal hielt ich den Atem an, denn es schien mir, als würde er diese Stille zerschlagen.

Nach einigen Stunden Zugfahrt erreichte ich Chichibu/Saitama. Dort wartete schon mein Lehrer, der Künstler Tatsuhiko Yokoo vor dem Bahnhof auf mich, den 2005 in Berlin kennengelernt hatte. Seither hatte ich bei ihm regelmäßig Unterricht in Malerei genommen. Chichibu ist eine kleinere Stadt, rund zwei Zugstunden vor den Toren Tokyos. Die ersten vier Wochen verbrachte ich dort im Haus meines Lehrers um weiter seine besondere Malmethode zu studieren. Das Haus lag auf einem kleinen Berg am Rande der Stadt. Von dort aus spazierte ich oft in die Stadt hinein. Mehrere Tage verbrachte ich damit zu versuchen, die Logik dieser recht typischen japanischen Kleinstadt zu verstehen. Bis auf eine Hauptverkehrsstraße nämlich gibt es wenig Orientierungspunkte wie Straßenachsen, Plätze, oder wichtige Kreuzungen. Bog ich von der Hauptstrasse in eine Nebenstrasse ein, verlief ich mich regelmäßig. Nebenstrassen sind meist eng und die Häuser stehen dicht und vor allem ungeordnet, kreuz und quer beieinander. So kommt es vor, dass man sich auf einem kleinen Nebenweg vermutet, um eine Ecke geht, und dann vor einer der größten und wichtigsten Tempelanlagen der Stadt steht. Letztendlich habe ich es aufgeben, hinter diesem augenscheinlichen Wirrwarr eine Struktur zu vermuten, an der ich mich orientieren hätte können und in Kauf genommen, mehrere Stunden herumzuirren, bevor ich den Weg zurück zum Haus meines Lehrers fand.

Mehrere Male machte ich Ausflüge nach Tokyo, ganz zum Verdruss meines Lehrers, der es lieber gesehen hätte, dass ich mich in seinem Haus ganz auf die Meditation konzentrierte. Ich aber musste Tokyo sehen. Da mein Lehrer wollte, dass ich mir meinen Führerschein übersetzen lasse, hatte ich einen hervorragenden Vorwand, um so oft es ging allein nach Tokyo zu fahren. Dort unternahm ich mehrere Expeditionen in den Garten des Kaiserpalastes, der in Anbetracht der außerordentlich engen Bebauung der gesamten Stadt ausgesprochen
großzügig angelegt ist. Natürlich erkundete ich auch die berüchtigten Knotenpunkte Shibuya, Ginza, Shinjuku und Ikebukuro. Und hier war es dann auch laut, bunt und überschwemmt von Menschen und, ja, es war modern, kitschig und anstrengend. Doch sobald man einen Zug betritt wird es wundersam ruhig. Da viele Japaner sehr viel Zeit in Zügen verbringen, haben sie diese, wie es scheint, zu einer Art öffentlichen Ruhezone erklärt, in der nicht laut gesprochen oder gedrängelt wird und auch kein Telefon klingelt oder sonstige Musik tönt. In Deutschland? Unvorstellbar!

Natürlich bestieg ich auch mehrere Türme um den Fuji-san zu sehen. Leider erfolglos. Eine Bekannte sagte mir, das liege daran, das er ein sehr schüchterner Berg sei, besonders im Sommer verstecke er sich gern hinter den dicken Smog-Wolken, die aus Tokyo aufsteigen. Aber ich wollte es nicht aufgeben und beschloss nach mehreren Misserfolgen, vor meinem Rückflug nach Deutschland noch zwei weitere Tage in Tokyo zu verbringen.

Einen Führerschein brauchte ich, weil mein Lehrer, der mittlerweile bereits 83 Jahre alt ist, mich bat, mit ihm einige seiner Schüler zu besuchen. Dazu fuhren wir weit ins Landesinnere. Was für ein Geschenk! Irgendwo auf dem Land, oder besser gesagt in den Bergen, besuchten
wir einmal Herrn Hara-san, der einstmals als erfolgreicher Grafiker arbeitete. Der ebenfalls schon sehr betagte Mann wohnt seit dem Tod seiner Frau allein in einem alten Haus am Fuß eines komplett bewaldeten Berges direkt am Ufer eines schmalen Flusses. Die Sonne schien
aber es war noch kühl. Das grün des Waldes flimmerte in der Luft und ein leiser Wind spielte in den Blättern des Waldes. Das kleine Haus schien in dieser Melodie zu erklingen. Die Größe des Hauses war auf das Nötigste reduziert, der Lack des Holzes dunkel wie die Tiefen des Waldes, die Farbe des Putzes matt wie der steinige Boden. Ich fand mich wieder, wie gefesselt von der Ruhe, vor dem kleinen japanschen Haus, im Lob des Schatten, fast wie in einer Tuschemalerei gefangen – und fand dort alles was ich zu suchen hatte.

Vier Wochen nach meiner Ankunft in Japan machte ich mich auf den Weg in das katholische Trappistinnen Kloster in Nasu/Tochigi-ken. Eine sehr kleine Frau in einem grauen Habit wartete am Bahnhof Shinshirakawa auf mich. Ein breites Lächeln umklammerte zwei viel zu große Brillengläser. Mit einem winzigen Finger zeigte sie auf ihre Nasenspitze: „Theresia desu!“ Schon nach wenigen Minuten Autofahrt verließen wir die Stadt, ringsum dehnten sich grüne Reisfelder aus; hier und da kleine Bauernhäuser, hier und da Schreine und Tempel, hier und da bunte Reklame von Hotels und Restaurants.

Gäste lebten im Kloster wirklich sehr komfortabel, dachte ich oft. Sicherlich erwartete ich ein gewisses Maß an Kargheit, es könnte aber auch möglich sein, dass mein Empfinden von Kargheit seit meinen Pilgerfahrten etwas abgestumpft ist. Ich hatte die Erlaubnis mehrere Monate im Kloster zu bleiben, um mich intensiv mit der Sprache und Kultur Japans zu befassen. Bald schon war mein kleines Zimmer vollgestopft mit Lektüre. Unzählige Schmierzettel mit japanischen Schriftzeichen und Vokabeln übersäten meinen Schreibtisch.

Nebenbei versuchte ich mich an einfachen Kaligraphieübungen und Tuscheskizzen. Auf dem Boden stapelten sich Zeitschriften und Bücher über japanische Kunst, Tuschemalerei, Gartengestaltung, Ikebana,… keines davon konnte ich lesen. Ich war froh, dass ich zu beschäftigt war, um darüber traurig zu sein – ich hatte kaum Zeit mir wenigstens die Bilder anzuschauen. Darum begann ich, sie abzufotografieren in der Hoffnung, mich damit irgendwann näher beschäftigen zu können. Tägliches Stundengebet und die Arbeit im Garten wurden unterbrochen von den Mahlzeiten, zweimal wöchentlich vom Japanischunterricht, der Konsultation mit einer Schwester zur japanischen Kultur, Religion und zum monastischen Leben, welche einmal wöchentlich stattfand, und der Nachtruhe. Während ich das so aufschreibe stelle ich fest, dass sich mein Tagesablauf kaum von den Berichten unterschied, die ich zuvor über japanische Zen-Klöster gelesen hatte.

Sonntags hatte ich gewissermaßen frei, ich konnte ausschlafen und ein bisschen Ordnung schaffen. Um zwei Uhr begleitete ich Theresia-san in die nächste Stadt um Hedwig-san zu besuchen. Mit 88 Jahren ist sie die kloster-älteste und lag mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Abgesehen von den Sorgen über ihre körperliche Versehrtheit, verbrachte ich mit Hedwig eine Zeit voller Zufriedenheit und tiefer Freude. Ihr Gesicht war seltsam weich und stets erfüllt von einem Lächeln, hinter dem sie das Geheimnis eines stillen Glücks verbarg. Bis zu meiner Abreise konnte ich sie jeden Sonntag besuchen.

Noch während meines Aufenthaltes bei den Trappistinnen arbeitete ich an der Fertigstellung einer ausführlichen Projektarbeit zum Thema „Mondo als Wahrheitstechnik im japanischen Zen-Buddhismus.“ Weiterhin bereitete ich eine zweite Projektarbeit zum Thema „Der monastische Garten als kultureller Speicher“ vor, welche im Bezug auf das Thema „Religion und religiöse Kunst als Mittel zur Schaffung kultureller Konstanten und als Orte kultureller Orientierung“ entsteht.

Vor meiner Abreise am 14. September 2010 verbrachte ich noch zwei Tage in Tokyo, Asakusa. Ich streifte durch Tempelanlagen und atmete den Duft auf den Straßen ein, ich kaufte Souvenirs und hoffte natürlich endlich Fuji-san zu sehen. Leider gelang es mir nicht, noch einen Blick auf ihn zu werfen, denn es war Sommer und der Himmel trübe. Aber ich bildete mir ein, ihn flüstern zu hören…„Wenn du wiederkommst, wenn du wiederkommst…“

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